In diesem Vortrag im Rahmen der GHIL lectures stellt Regina Toepfer (Würzburg) ihr Konzept der Translationsanthropologie vor und zeigt, wie philologische Vergleiche Denkmuster, Wissenssysteme und Wertvorstellungen historischer Individuen und Gesellschaften aufdecken können. Sie betrachtet literarische Übersetzungen als anthropologische Schlüsseltexte und sieht Bedeutungsverschiebungen zwischen Ausgangs- und Zieltext nicht als ästhetische Unzulänglichkeiten, sondern als kulturellen Zugewinn.
Dieses Modell wird anhand einer Analyse der ersten Homer-Übersetzung ins Deutsche von 1537/38 vorgestellt. Simon Schaidenreissers Odyssee bietet zahlreiche Einblicke in gesellschaftliche Normen, Ideale und Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit. So werden in dem Musenanruf und der Versammlung der Götter zu Beginn von Homers Epos zentrale Vorstellungen über Dichtung, Politik und Religion, über Moral, Männlichkeit und Familie sowie über Schuld, Unglück und Tod adressiert.